Appell zum Beitritt der Schweiz zum Atomwaffenverbotsvertrag

Aufruf zum Beitritt der Schweiz zum UN-Vertrag ĂŒber das Verbot von Atomwaffen (TPNW)

 

An die Schweizer Bundesbehörden:

Mit diesem Schreiben möchten wir Sie dringend dazu aufrufen, Massnahmen zu ergreifen, um das Ansehen und den Einfluss der Schweiz in internationalen humanitÀren Angelegenheiten zu bewahren und die Sicherheit der Schweiz, Europas und der internationalen Gemeinschaft zu stÀrken.

Die Schweiz bekennt sich zu Recht zum Völkerrecht und zu multilateralen Sicherheitskonzepten, die auf humanitĂ€ren GrundsĂ€tzen beruhen. Die Schweiz gilt seit langem auch als Verfechterin des humanitĂ€ren Völkerrechts. Als Depositarstaat der Genfer Konventionen hat die Schweiz eine herausragende Rolle und konnte in diesem Bereich Einfluss und FĂŒhrung ausĂŒben. Wir können stolz sein auf die fĂŒhrende Rolle, die unser Land bei der Entwicklung, Förderung und Umsetzung wichtiger humanitĂ€rer Rechtsinstrumente wie den VertrĂ€gen ĂŒber das Verbot von biologischen Waffen, chemischen Waffen, Antipersonenminen und Streumunition gespielt hat. Unsere aktive UnterstĂŒtzung hat dazu beigetragen, dass diese VertrĂ€ge Millionen von Menschenleben retten, die humanitĂ€ren Folgen bewĂ€ltigen, die schweizerische und globale Sicherheit verbessern und Katastrophen verhindern.

Dennoch gibt es eine eklatante und nicht zu rechtfertigende Anomalie. Der UN-Vertrag ĂŒber das Verbot von Atomwaffen (TPNW) ist am 22. Januar 2021 in Kraft getreten. Er verbietet Atomwaffen ebenso umfassend wie das Übereinkommen ĂŒber biologische Waffen von 1972 und das ChemiewaffenĂŒbereinkommen von 1993 biologische bzw. chemische Waffen verbieten. Damit vervollstĂ€ndigt er das internationale Rechtssystem gegen Massenvernichtungswaffen. Wie es unserer langjĂ€hrigen Politik und unseren GrundsĂ€tzen entspricht, gehörte die Schweiz zu den Initiatoren dieses Vertrags in der UNO, und Schweizer Diplomaten waren an den Verhandlungen beteiligt und leisteten wertvolle BeitrĂ€ge.

Der Bundesrat hat den TPNW jedoch noch nicht unterzeichnet, obwohl das Parlament 2018 eine entsprechende Motion verabschiedet hat. Der Bundesrat hat angekĂŒndigt, von einer Unterzeichnung vorerst abzusehen und seine Position Anfang 2023 neu zu beurteilen. Als GrĂŒnde fĂŒr die Nichtunterzeichnung fĂŒhrt der Bundesrat Bedenken ĂŒber die Vereinbarkeit des TPNW mit dem Vertrag ĂŒber die Nichtverbreitung von Atomwaffen (NPT) und ĂŒber mögliche negative politische Folgen fĂŒr die Zusammenarbeit der Schweiz mit den NATO-Staaten an.

Diese Bedenken sind nicht gerechtfertigt. Der TPNW ist nicht nur voll und ganz mit dem NPT vereinbar, er soll ihn auch umsetzen und stĂ€rken. Die erste Vertragsstaatenkonferenz des TPNW erklĂ€rte diesbezĂŒglich:

„Wir erkennen den Vertrag ĂŒber die Nichtverbreitung von Atomwaffen (NPT) als Eckpfeiler des AbrĂŒstungs- und Nichtverbreitungsregimes an und bedauern Drohungen oder Handlungen, die versuchen diesen Vertrag zu untergraben. Als uneingeschrĂ€nkt verpflichtete Vertragsstaaten des NPT bekrĂ€ftigen wir die KomplementaritĂ€t des Vertrags mit dem NPT.“[1]

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat zudem bestĂ€tigt, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass der TPNW und der NPT rechtlich oder politisch unvereinbar seien, in Konkurrenz zueinander stĂŒnden oder sich nicht gegenseitig unterstĂŒtzen.[2] Laut der interdepartementalen Arbeitsgruppe des Schweizerischen Bundesrates „bekrĂ€ftigt und ergĂ€nzt [der TPNW] die bestehenden völkerrechtlichen Verbote und BeschrĂ€nkungen“, wie sie am 30. Juni 2018 feststellte.

Die Sicherheit der Schweiz wird durch die Unterzeichnung des TPNW nicht gefĂ€hrdet und die Diskussionen ĂŒber die Zusammenarbeit mit den NATO-Staaten werden dadurch nicht beeinflusst. Die TPNW-Beitritte der NATO-Partner Österreich, Irland, Malta und Neuseeland haben nicht zu einer Verschlechterung ihrer militĂ€rischen Zusammenarbeit mit der NATO gefĂŒhrt. Deutschland, einer von mehreren NATO-Staaten, die als Beobachter an der Vertragsstaatenkonferenz des TPNW teilnahmen, erklĂ€rte, dass es die „eindeutige ErklĂ€rung der TPNW-Vertragsstaaten zur UnterstĂŒtzung des NPT sehr schĂ€tze“ und der Ansicht sei, dass „BefĂŒrworter und Skeptiker des TPNW bei der Verfolgung ihrer gemeinsamen Ziele der Nichtverbreitung von Kernwaffen und der AbrĂŒstung Schulter an Schulter arbeiten können“.[3]

Als Sitzstaat des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) wird die Stimme der Schweiz im internationalen Kontext gehört. Das IKRK hat sich von Anfang an fĂŒr den TPNW engagiert, was kĂŒrzlich erneut deutlich wurde: Am 22. September 2022 haben fĂŒnf neue Staaten den TPNW unterzeichnet und zwei weitere haben ihn ratifiziert. Nachdem er auf den Konflikt in der Ukraine und die Bedeutung der nuklearen AbrĂŒstung aufmerksam gemacht hatte, sagte der damalige IKRK-PrĂ€sident Peter Maurer ĂŒber den TPNW: „Der TPNW bringt uns einen weiteren Schritt in Richtung einer atomwaffenfreien Welt, aber es ist noch ein langer Weg zu gehen. Ich fordere alle Staaten, die dem Vertrag noch nicht beigetreten sind, auf, dies unverzĂŒglich zu tun.“

Wir befĂŒrchten, dass die vom Bundesrat geĂ€usserten Bedenken gegenĂŒber dem TPNW die Schweiz immer weiter von ihren eigenen humanitĂ€ren GrundsĂ€tzen entfernen. Wir befĂŒrchten, dass die Haltung der Schweiz gegenĂŒber dem TPNW dazu fĂŒhren wird, dass andere uns zunehmend nur noch als „Schönwetter-Freundin“ der humanitĂ€ren GrundsĂ€tze und des Völkerrechts sehen, die bereit ist, beides im Interesse der politischen OpportunitĂ€t oder als Reaktion auf Unsicherheit und InstabilitĂ€t aufzugeben. Dies kann dem Ansehen und dem Einfluss der Schweiz nur schaden und letztlich unsere Sicherheit beeintrĂ€chtigen.

Wir sind der festen Überzeugung, dass gerade in Zeiten der Unsicherheit und InstabilitĂ€t das Bekenntnis zu humanitĂ€ren GrundsĂ€tzen und zum Völkerrecht am wichtigsten ist. Wir sehen heute in Europa die wahre Natur der nuklearen Abschreckung: Atomwaffen werden nicht zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und StabilitĂ€t eingesetzt, sondern um Zwang auszuĂŒben und einzuschĂŒchtern; um Aggressionen zu erleichtern, die Bandbreite möglicher Reaktionen einzuschrĂ€nken und um Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu decken.

Die nukleare AbrĂŒstung ist deshalb wichtiger und dringender denn je – sowohl aus humanitĂ€ren GrĂŒnden als auch weil die Sicherheit der Schweiz und Europas davon abhĂ€ngt. Die internationale Gemeinschaft muss dringend ernsthafte multilaterale BemĂŒhungen zur vollstĂ€ndigen Abschaffung von Atomwaffen erneuern und verstĂ€rken. Der TPNW ist ein unverzichtbarer Teil dieser BemĂŒhungen, und zeigt bereits Wirkung. Die Vertragsstaatenkonferenz des TPNW hat als bisher einziges multilaterales Forum jegliche nukleare Drohung unmissverstĂ€ndlich verurteilt.

Die Schweiz sollte bei der Umsetzung des TPNW eine fĂŒhrende Rolle spielen und nicht skeptische Kommentare von der Seitenlinie abgeben. Das Festhalten an den bestehenden erfolglosen AnsĂ€tzen zur nuklearen AbrĂŒstung, das untĂ€tige Wiederholen leerer BekrĂ€ftigungen festgefahrener Initiativen und unerfĂŒllter Verpflichtungen, lĂ€uft darauf hinaus, den nuklearen Status quo zu bewahren und Russlands nukleare Bedrohungen zu beschwichtigen. Die Schweiz kann und muss es besser machen, und die Welt erwartet von der Schweiz eine prinzipientreue FĂŒhrung. Wir fordern die Schweiz auf, dem kĂŒrzlich erfolgten Appell des IKRK zu folgen und alles zu tun, um den TPNW unverzĂŒglich zu unterzeichnen.

Mit freundlichen GrĂŒssen

Marianne Aeberhard, Direktorin humanrights.ch
Michael AmbĂŒhl, Ehem. StaatssekretĂ€r
Christine Beerli, Ehem. VizeprÀsidentin IKRK
Dominique de Buman, Ehem. PrÀsident des Nationalrats
Micheline Calmy-Rey, Ehem. BundesrÀtin
Yves Daccord, Ehem. Generaldirektor IKRK
Martin Dahinden, Ehem. Schweizer Botschafter
Ruth Dreifuss, Ehem. BundesrÀtin
Yvana Enzler, Ehem. Schweizer Botschafterin
Beatrice Fihn, Direktorin ICAN
Marc Finaud, Seniorberater und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geneva Center for Security Policy (GCSP)
Laurent Goetschel, Direktor Swisspeace, Professor an der UniversitÀt Basel
Alec von Graffenried, StadtprÀsident Bern
Tim Guldimann, Ehem. Schweizer Botschafter
Laurent Guye, Ehem. Schweizer Botschafter
Beat Jans,RegierungsprÀsident Basel-Stadt
Alexandra Karle, Direktorin Amnesty International Schweiz
Sami Kanaan, Verwaltungsrat der Stadt Genf
Jakob Kellenberger, Ehem. PrÀsident IKRK
Michael KĂŒnzle, StadtprĂ€sident Winterthur
Ulrich Lehner, Ehem. Schweizer Botschafter
Raymond Loretan, Ehem. Schweizer Botschafter
Georges Martin, Ehem. Stv. StaatssekretÀr
Dick Marty, Ehem. StÀnderat
Corine Mauch, StadtprĂ€sidentin ZĂŒrich
Beat Nobs, Ehem. Schweizer Botschafter
Maria Pappa, StadtprÀsidentin St. Gallen
Johan Rochel, Co-Direktor ethix: Lab for Innovation ethics
Marco SassĂČli, Professor an der UniversitĂ€t Genf
Pauline Schneider, Politische SekretÀrin GSOA
Cornelio Sommaruga, Ehem. PrÀsident IKRK
Jacques de Watteville, Ehem. StaatssekretÀr
Daniel Woker, Ehem. Schweizer Botschafter,
Beat ZĂŒsli, StadtprĂ€sident Luzern

Aufzeichnung der Medienkonferenz zur PrÀsentation des Appells:

 

Übergabe des Dreirads aus Hiroshima an die Stadt Genf

[1] https://documents.unoda.org/wp-content/uploads/2022/06/TPNW.MSP_.2022.CRP_.8-Draft-Declaration.pdf

[2] https://www.bundestag.de/resource/blob/814856/28b27e2d04faabd4a4bc0bfd0579658c/WD-2-111-20-pdf-data.pdf

[3] https://documents.unoda.org/wp-content/uploads/2022/06/Germany.pdf

 

 

 

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